16
Dez
2006

9. Einheit vom 14. Dezember 2006

„Der „militärische Wohlfahrtsstaat“ der Neuzeit. Das Beispiel der Habsburgermonarchie und ihre Staatsbildung“ von Anton Tantner

Hochedlinger hat den Begriff „Staatsverdichtung“ geprägt. Hier geht es um die Herausbildung des Staates, insbesondere durch das Militär. Das Militär braucht Geld, dadurch muss die Finanzierung gewährleistet werden. Für die Armee werden außerdem Männer gebraucht, die erfasst werden müssen in einem Verzeichnis. Moderne Staaten definieren sich über das Detail, sie entwickeln sich zu einem „polizierten“ Staat (Häuser werden gezählt, Karten werden angelegt). Ab 1754 werden im Habsburgerreich Volkszählungen durchgeführt. Bereits ab 1748 wird ein Kataster (tatsächlichen Verhältnisse des Landes) angelegt. Dadurch wurden im Habsburgerreich auch Zentren und Peripherien geschaffen. Bei der Konskription (Aushebung der gemusterten männlichen Bevölkerung) spielt speziell das Militär eine wichtige Rolle.

Besonders eindrücklich ist die „Seelenkonskription“ 1770 bei der auch Hausnummern aufgebracht werden. Dies ist vermutlich ein Detail in der Geschichte, aber nur so kann es einsichtig werden, wie die großen Konstruktionen entstehen können. Es können also Erkenntnisse gewonnen werden die sonst nicht aus der Vogelperspektive gesehen werden können. Es gibt ein neues Rekrutierungssystem, dass alle männlichen und wehrfähigen Männer erfasst werden, die Konskription erfolgt nun gar nicht mehr versteckt, es wird zugegeben, dass es für das Militär gemacht wird. Der Konskription geht eine langwierige Debatte voraus, es kommt aber damit zu einem weiteren Schritt der Militarisierung und der Verstaatlichung. Am 10.03.1770 wird das Patent publiziert.

Auf der niedrigsten Ebene werden Lokalkommissionen eingesetzt, die aus fünf Personen bestehen. 1786 Personen sind insgesamt für die Erhebung zuständig, es ist nicht leicht Leute zu finden. Der militärische Hauptzweck ist ersichtlich schon daraus, dass von den Männern viel mehr Daten erhoben werden als von den Frauen (diese werden nur summarisch erfasst, ohne Namen!). Neben der Konskription werden eben auch Hausnummern angebracht, die mit schwarzer Farbe über die Haustüre gemalt werden (Ausnahme ist Wien, rote Farbe). Nummeriert wird nicht straßenweise sondern nach der ganzen Ortschaft, dabei durfte kein Haus übergangen werden. Es wird dabei kein Unterschied zwischen Adeligen und Bauern gemacht, was deswegen auch Widerstand hervorruft, weil es eine Gleichsetzung ist. Die Zahlen werden mit „deutschen“ (also arabischen) Schriftzeichen angebracht, die Zahl allein aber reicht nicht, sondern es muss zuvor auch eine Abkürzung von Nummer stehen, damit es nicht mit der Jahreszahl verwechselt wird. Für jüdische Häuser hingegen werden römische Schriftzeichen verwendet --> klare Abgrenzung.

In ganz Europa verbreitet sich die Nummerierung, es ist charakteristisch für das 18. Jh., weil dieses von Ordnung und Klassifikation geprägt ist. Ab Mitte des 18. Jh. werden fast überall Nummerierungen angebracht. Zunächst in Madrid, bald darauf in Triest und London. 1766 in Tirol und 1767 in Vorderösterreich. 1770 dann eben auch die böhmischen und österreichischen Länder. 1786 schließlich Ungarn und Mailand. Die Begründungen für die Nummerierung sind zahlreich (Bettler, Militär).

Es gibt vier Arten, wie die Nummerierung angebracht wird:
1) ortschaftsweise (wie im Habsburgerreich)
2) viertelweise (wie in Main und Augsburg)
3) blockweise (wie in Mannheim)
4) straßenweise (in Wien ab 1860, als „Orientierungsnummern“ bezeichnet)

Im innerösterreichischen und im schlesischen geht es gleich nach der Verkündigung des Patents im März 1770 mit der Umsetzung los. Im Rest erst im Oktober. Es vergehen viel mehr als die 3-7 Monate, die ursprünglich eingeplant waren. Es dauert bis Februar 1773, bis das Endergebnis präsentiert werden kann. Aber das Endergebnis existiert nicht mehr, es scheint auch nicht so interessant für die Zeitgenossen gewesen zu sein. Aber ca. 1,1 Mio. Häuser sind erfasst worden, wobei es eine Streitfrage ist, was denn tatsächlich ein Haus sei. Verglichen mit den Volkszählungen zuvor werden aber viel mehr Menschen erfasst als früher. Dies ist überraschend, weil es im Zeichen des Militärs stand, andererseits wurde es noch nie so gründlich durchgeführt. Aber in Böhmen werden durch die Zahlen auch für die Getreideverteilung benutzt um zukünftige Hungersnöte zu vermeiden, es reicht also durchaus über die militärische Dimension hinaus.

Weil die Offiziere selbst herumreisen, sollen diese dann auch gleich beschreibende Berichte abliefern. Es wird erst relativ spät vom Militär realisiert welch enormes Potential in der Informationsbeschaffung in der Peripherie steckt. Das Volk ist zT gar nicht so abgeneigt vom Militär, vilemehr werden die Offiziere als Medien wahrgenommen. Auch wird die Rekrutierung durchaus auch positiv aufgenommen, weil der Robot so hart ist. Es gibt aber auch selbstverursachte Verstümmelung und Flucht, es ist aber keineswegs ein Massenphänomen. Im ganzen sind die Offiziere durchaus zufrieden. Die vielen Klagen der Bevölkerung aber haben auch das Potential der Aufruhr in sich, so kommt es 1775 zum großen Bauernaufstand. Angeblich gibt es dabei durchaus Zusammenhänge, weil die Versprechungen der Offiziere nicht eingehalten werden.

Die Offiziere kritisieren auch einiges. So bemängeln sie, dass „viehische“ Leben der Bauern, also die Sauberkeit. Teilweise wird die Situation der Bauern durchaus mit der sozialen Lage und dem daraus resultierenden Wohlergehen gesehen. Das Militär kooperiert oft nicht mit den Grundherren, sie gehen viel weiter als die zentralen Behörden. Die Armee braucht körperlich starke Soldaten. Der Bauernschutz erklärt sich also aus Soldatenschutz. Es werden viele namenslose und alterslose Leute angetroffen. Dies ist auch sehr problematisch für die Erfassung. Aber auch die bauliche Beschaffung wird kritisiert. Es gäbe sehr viele „Dumme“, weil die Leute zu verstreut leben und so nicht in Schule und Kirche kommen. In Teschen wird kritisiert, dass die Pferdeställe zu niedrig sind, diese Beschwerde wird tatsächlich von der Bürokratie aufgegriffen.

Auch die Essgewohnheiten und die medizinische Versorgung ist für das Militär interessant. Es gibt eine Sorge um das Wohlergehen des Volkes, staatliche Maßnahmen werden ergriffen. Josef II will eine militärische Ebene neben der zivilen Ebene einführen, ein Kantonsystem, dass an Preußen angelehnt ist. Das Militär entdeckt also die „soziale Frage“, aber bald wird diese wieder vergessen.
adresscomptoir - 18. Dez, 10:24

Durchaus interessant, eine Zusammenfassung der eigenen Vorlesung zu lesen. Eine kleine Korrektur um 100 Jahre nur: Die Volkszählungen wurden in der Habsburgermonarchie ab 1754 durchgeführt, der Kataster ab 1748 angelegt. - Anton Tantner

itdoesnotmatter - 10. Jan, 01:27

danke für den hinweis!

logo

RV Krieg und Militaer

Aktuelle Beiträge

12. Einheit vom 25. Jänner...
Krieg, Militär und Geschlecht im 20. Jh. von Elfriede...
itdoesnotmatter - 25. Jan, 16:49
11. Einheit vom 18. Jänner...
Geschwächte Staaten und prekarisierte Männlichkeiten:...
itdoesnotmatter - 18. Jan, 23:00
10. Einheit vom 11. Jänner...
Der Irak zwischen Staatszerfall und nationbuilding...
itdoesnotmatter - 18. Jan, 22:56
danke für den hinweis!
danke für den hinweis!
itdoesnotmatter - 10. Jan, 01:27
Durchaus interessant,...
Durchaus interessant, eine Zusammenfassung der eigenen...
adresscomptoir - 18. Dez, 10:24

Archiv

Dezember 2006
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 1 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
11
12
13
14
15
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 

Suche

 

Status

Online seit 6392 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 25. Jan, 16:49

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren